Heutzutage wird praktisch alles über Gelddrucken und neue Schulden ausgeglichen. Niemand muss mehr Risiko bezahlen. Ob Corona, Naturkatastrophen oder krasse politische Fehlentscheidugen: Die EZB druckt es weg. Die Abrechung kommt später.
Börsen-Zeitung: „Geduld!“ Kommentar von Stefan Reccius zur EZB
Mehr Klarheit hatten sich die Marktteilnehmer von der Sitzung der Euro-Währungshüter versprochen: der ersten nach Abschluss der groß angelegten Strategieüberprüfung und der letzten vor der Sommerpause. In der Tat hatte allen voran EZB-Chefin Christine Lagarde die Erwartungen geschürt.
Nun, ein wenig mehr Klarheit gibt es: Die Europäische Zentralbank (EZB) duldet explizit Inflationsraten jenseits ihres Ziels von neuerdings glatt 2 %, wenn sie – wie derzeit – davon ausgeht, dass der Preisschub temporär ist. Im Ergebnis werden die Leitzinsen noch länger im Keller bleiben. „Lower for longer“ lautet mehr denn je die Devise – auch wenn Lagarde sich mühte, diesen Eindruck zu zerstreuen.
Ansonsten sind die Beschlüsse und Lagardes Verlautbarungen eine Antiklimax. Geduld ist das Gebot der Stunde. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Anleihekaufprogramme, genauer: die Zukunft des Corona-Notfallkaufprogramms PEPP. Erwartungen an den Märkten, der EZB-Rat könnte erste zaghafte Hinweise liefern, wie es mit dem bis Ende März 2022 befristeten Hauptinstrument der EZB im Kampf gegen die Folgen der Pandemie weitergeht, wurden enttäuscht.
Lagarde zufolge ist PEPP nicht einmal zur Sprache gekommen. Das ist ein Indiz, wie viel Zeit und Aufwand allein die Überarbeitung des Zinsausblicks beanspruchte. Am Ende stand der EZB-Rat nicht geschlossen hinter der neuen „Forward Guidance“, die noch einmal eine deutlich expansivere Note bekommen hat – und die Kontroversen werden sich potenzieren, wenn es im September um die Zukunft der Anleihekäufe geht.
Die Währungshüter werden dann auf der Grundlage frischer Projektionen zur Entwicklung von Konjunktur und Inflation diskutieren. Das lädt die kommende Sitzung mit besonderer Brisanz auf. Denn die Signale, dass der Inflationsschub stärker und anhaltender als erwartet sein könnte, nehmen zu.
Bislang erwarten die Volkswirte der EZB, dass die Inflation bis 2023 auf 1,4 % zurückgehen wird. Mit dem neuen Zinsausblick lenkt die EZB den Blick mehr denn je auf das Ende ihres Projektionshorizonts. Das rechtfertigt einstweilen ihre stoische Haltung.
Doch die Kritik an diesem Kurs wird zunehmen, der Rechtfertigungszwang wird stärker. Für Lagarde brechen die entscheidenden Monate ihrer Präsidentschaft an: Schafft sie es, den Kampf ihrer Kollegen um Deutungshoheit in Bezug auf die neue Strategie zu befrieden?
Oder wird sie letztlich im Stile Mario Draghis doch ihre Vorstellungen von einer expansiven Geldpolitik gegen Widerstände durchdrücken? Nicht die Geduld verlieren: Das gilt auch für Lagarde persönlich.
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